the new normal
Das Magazintagebuch über Corona, Gefühle und Haltungen
Kulturelle Jugendarbeit findet eigentlich vis à vis statt, das gemeinsame kreative Schaffen und der Austausch untereinander sind zentrale Säulen der kulturpädagogischen Arbeit.
Aufgrund der noch gültigen Kontaktsperre und Schließung der offenen Kinder- und Jugendeinrichtungen mussten neue Räume und Formen gefunden werden. Sowohl die Projektvorstellung, das Kennenlernen und die Umsetzung fanden ausschließlich im virtuellen Raum statt. Dies stellte Projektleitung und Teilnehmende vor neue Herausforderungen: Es ist gar nicht so leicht sich nur via Text- und Videobotschaften zu verständigen! Das direkte Gegenüber im hierundjetzt fehlt. Wird die Aufgabenstellung verstanden? Sind inaktive Teilnehmende gerade fleißig zugange, fühlen sich von der Aufgabe nicht angesprochen oder sind sie überhaupt noch da???
Vieles, was in einem Projekt vor Ort nahezu unbewusst passiert, erfordert im virtuellen Raum viele kommunikative Handlungen (nachfragen, Feedback geben, Missverständnisse aufklären, motivieren…). Die Projektleitung ist beim kreativen Schaffensprozess der Teilnehmenden außen vor und kann weder eingreifen noch Hilfestellung geben. Dadurch wird einerseits die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen gefordert andererseits lässt das Medium mehr Offenheit und Selbstbestimmung zu. Jede*r Teilnehmende hat während der Projektwoche sowohl eigenen Content in Form von Fotos, Zeichnungen und Texten entwickelt, als sich auch im Gruppenchat mit den Werken anderer auseinandergesetzt. Die Jugendlichen haben einen sehr persönlichen Einblick in ihre momentane Gefühlswelt gegeben und dabei aber auch immer den physisch nicht vorhandenen Gegenüber sowie die Gesellschaft im Blick behalten. Der virtuelle Projektraum diente als Ventil für Gefühle, Ängste und Frustration ebenso sehr wie als kreative Spielwiese und Begegnungsort.
Gelingensfaktoren:
- Pädagogische Begleitung: neben der kulturpädagogischen Projektleitung braucht es einen festen Ansprechpartner, den die Teilnehmenden aus dem Jugendtreff persönlich kennen und dem sie vertrauen
- Feste Projektzeiten: diese stecken den Rahmen für das Projekt
- Klare Aufgabenstellung mit Beispielen: diese dient als roter Faden und Hilfestellung
- Feedback nach jedem Ergebnis: Jugendliche brauchen eine schnelle Reaktion durch die Projektleitung, um am Ball zu bleiben
- Gemeinsames Thema, das alle interessiert und betrifft
- Ergebnis / Endprodukt: der gemeinsame virtuell-kreative Prozess braucht ein klar definiertes Ziel, um nicht zu versiegen. Bei The new normal war von Beginn an klar, dass ein gedrucktes Magazin entstehen wird
Das Projekt war eine mutige und schnelle Antwort auf den Lockdown. Es hat den Teilnehmenden eine Plattform geboten sich künstlerisch auszudrücken und auszutauschen in einer Zeit, in der andere Projektformate nicht möglich waren. Durch die isolierte Situation der Teilnehmenden, haben diese ihre Werke wesentlich offener und mutiger im virtuellen Raum geteilt, als es in einer physischen Gruppe der Fall gewesen wäre. Dadurch wurde viel kreatives Potenzial sichtbar! Diese Offenheit der Jugendlichen setzt ein Höchstmaß an Sensibilität und Verantwortung seitens der Projektleitung voraus. Sie muss sicherstellen, dass der virtuelle Raum geschützt ist, sich alle an die gemeinsamen Regeln halten und jedwede Veröffentlichung der Projektergebnisse mit allen beteiligten Jugendlichen (sowie deren Eltern) abgesprochen wird.
Grenzen der digitalen Jugendkulturarbeit
Wie man bereits an den Gelingensfaktoren absehen kann, stellt dieses Projektformat hohe Anforderungen an die beteiligten Jugendlichen
Sie müssen sowohl über einen Internetzugang, ein eigenes Endgerät als auch Rückzugsmöglichkeiten (ein eigenes Zimmer) verfügen. Sie müssen der deutschen Sprache mächtig, zuverlässig und in der Lage sein, sich selbst zu organisieren und zu motivieren.
Gemeinschaft mit angezogener Handbremse
Durch die feste Aufgabenstellung und das vorgegebene „Endprodukt“ sind weniger gemeinsame Entscheidungsprozesse möglich als in Präsenzprojekten. Das Arbeiten an einem Gemeinschaftswerk kann schnell in seine Einzelteile zerfallen: Jede*r arbeitet für sich allein und am Ende werden die Teile zusammengefügt. Um das zu verhindern muss die Projektleitung durchgehend moderieren.
Wen erreichen wir nicht?
Diese Faktoren erschweren insbesondere Jugendlichen, die in sozioökonomischen Risikolagen aufwachsen den Zugang zu solchen Projekten. Nein, nicht jede*r verfügt selbstverständlich über ein eigenes Smartphone zuzüglich dem Datenvolumen, um an virtuellen Angeboten teilzunehmen. Hinzu kommen der Wegbruch einer verlässlichen festen Tagesstruktur über mehrere Monate (Schule, Hausaufgabenbetreuung, erzieherische Hilfen), die Betreuung jüngerer Geschwister und die Bewältigung von Ängsten und Sorgen vor dem Hintergrund der allgemeinen Verunsicherung.
Für jüngere Kinder, die noch zur Grundschule gehen sind Projekte, wie das oben beschriebene auf Grund des noch nicht vorhandenen souveränen Sprachgebrauchs nicht geeignet.
Fazit
Virtuelle Angebote der Kulturellen Bildung eröffnen sowohl den teilnehmenden Jugendlichen als auch den Projektleiter*innen neue Perspektiven, Methoden und Arbeitsweisen (z.B. auch ganz ohne Corona-Kontext im ländlichen Raum). Corona hat die Türen der Jugendeinrichtungen von heute auf morgen zu geknallt, dadurch aber auch der Digitalisierung einen (längst überfälligen) Boost verpasst. Projekte wie The new normal sind eine lohnende und sinnvolle Alternative und Ergänzung zu Angeboten vor Ort, können (und wollen) diese jedoch nicht ersetzen.
Projektleitung, Kooperation & Förderung
Leitende Referentin: Iris Wolf (Selfiegrafen)
Pädagogische Begleitung: Leonard Tervooren
Teilnehmerstruktur: 7 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 13 und 24 Jahren
Projektzeitraum: 27. April bis 4. Mai 2020
Ort: Übach-Palenberg
Das Projekt fand statt in Kooperation mit dem TRUST der ev. Kirchengemeinde Übach-Palenberg statt.
Ermöglicht wurde das Projekt durch eine Sonderförderung des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein Westfalen.